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Diane Shisk

 

Die Opferposition aufgeben

Ausschnitte aus den Reden von Barbara Love (internationale Befreiungsperson für Menschen afrikanischer Herkunft) auf dem Workshop über Schwarze Menschen und Juden in Connecticut, USA, Oktober 2004.

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Erinnert euch daran! Wir sind dabei, das Wissen darüber, wer wir sind, zurückzuerobern, obwohl Schmerzmuster uns noch im Wege stehen. Wir wissen, dass wir miteinander verbunden sind, und wir werden versuchen, uns so zu verhalten, als wären wir miteinander verbunden, auch wenn wir die Realität der Verbindung nicht aufrecht erhalten und fühlen können. Wir können weiterhin diese Realität anstreben und all unser Handeln wird auf Basis dieser Realität basieren. Manche Leute könnten sagen: „Wir tun so als ob, bis wir es schaffen.“ Vielleicht fühlt es sich wie Vortäuschung an, da so viele ungeheilte Schmerzen auf unserer natürlichen Verbindung zueinander liegen. Ich möchte, dass wir wahrnehmen, dass es eine gute Sache ist, dass wir uns durch die ungeheilten Schmerzen erreicht haben. Wir haben es geschafft, gerade durch die Schmerzen einander wahrzunehmen und zu lieben.

Ich möchte, dass wir diese Zeit und diesen Ort benutzen, zusammen diese Stücke von ungeheilten Schmerzen aufzuwühlen, loszureißen und zu entlasten – herauszubekommen, wie wir sie loslassen können, die Schüchternheit, die Zurückhaltung, die Angst. Viele der ungeheilten Schmerzen in der einen oder der anderen Form sind Angst: Angst, dass ich deine Gefühle verletze; Angst, dass ich dich verlieren werde, wenn ich diesem Material richtig auf die Spur komme; Angst, dass wenn ich dir sage, was ich denke oder die Dinge unterbreche, die mich verletzen, du dich zurückziehen wirst und ich das kleine Stück von dir nicht mehr haben werde, das ich im Moment habe.

Das letzte Mal als wir zusammen waren, sagte ich euch Menschen von afrikanischer Herkunft, dass ihr die Verantwortung für die Beendung von anti-jüdischer Unterdrückung übernehmen würdet, weil es der schnellste Weg zu eurem Wiederauften ist. Ich habe angedeutet, dass die Übernahme von Verantwortung für die Beendung anti-jüdischer Unterdrückung euch so schnell aus der Opferposition treiben wird, dass ihr euch wundern werdet, warum ihr euch dort so lange aufgehalten habt. Ich sagte, dass ihr verstehen werdet, was es bedeutet, ein kraftvoller Mensch zu sein, der etwas in der Welt bewirkt. Viele Menschen afrikanischer Herkunft haben mir in den dazwischenliegenden Jahren gesagt, dass diese Richtung eine der kraftvollsten und lebensbewegenden Richtungen ist, die sie je angenommen hatten. Sie befanden sich ermächtigt, in der Welt auf eine Art und Weise zu agieren, die sie sich nie zuvor ausgemalt hatten.

Ich habe eine Botschaft an die Juden bezüglich der Stellen, wo eure Schüchternheit oder eure Angst oder euer Grübeln oder eure Besorgnis euch im Endeffekt im Wege steht zu den Beziehungen, die ihr haben möchtet. Das zeigt sich auf unterschiedliche Weisen. Vielleicht machst du dir Sorgen, ob schwarze Menschen generell oder eine bestimmte schwarze Person dich ausreichend mag oder sich um dich kümmert. Vielleicht machst du dir Sorgen, ob es wirklich okay ist, ihnen nahe zu sein, ob du ihnen das sagen kannst, was du sagen möchtest, ob du ein echtes Gespräch über Themen, die sich aus der Beziehung ergeben, haben kannst.

 

Ich ermutige euch, jetzt zu üben, euch über diese Sorgen und Ängste hinwegzusetzen. Dieser Versuch wird heftige Entlastung auslösen. Wartet nicht, bis ihr das Gefühl habt, genug entlastet zu haben, um den Versuch anzugehen. Tut es und achtet darauf, welche Entlastung hochkommt.

Meine Aufgabe an die schwarzen Menschen, meine Richtung für euch, meine Hoffnung für euch und für meine Leute überall, ist, irgendetwas aufzugeben, etwas loszulassen. Es geht darum, etwas aufzugeben und eine Idee oder ein Stück Information loszulassen, das die Annahme von der Opferposition zu rechtfertigen scheint. Wir sind diese Opfer-position gewohnt. Diese Vertrautheit kann sich angenehm und sicher anfühlen. Manchmal fühlt es sich sogar so an, als würden wir die Opferposition genießen.

Natürlich erkenne ich an, dass wir zu dieser Position berechtigt sind, denn wir haben enorme Mengen von Leid „eingesteckt“. Wir haben den Preis bezahlt, um die Opfer-position in Anspruch nehmen zu können. Die Tatsache ist, sie ist für uns reserviert. Vielleicht hast du das Gefühl, du hast das Recht, sie anzunehmen. Vielleicht fühlst du dich völlig im Recht dabei. Vielleicht hast du das Gefühl, dass keiner deinen Anspruch darauf dir streitig machen kann.

Ich stelle in Aussicht, dass es trotz eurer Gefühle keine wirkliche Rechtfertigung gibt, die Opferposition in Anspruch zu nehmen. Ich fordere euch auf, sie aufzugeben. Ihr werdet euch in der Versuchung befinden, wieder in die Opferposition hineinzusteigen. Eines Tages werdet ihr mit reichlich Rechtfertigung versuchen, sie wieder anzunehmen. Manchmal, am Tag, nachdem ihr die Position ein für alle Male abgelegt habt, wird euch irgendwas dazu bewegen, sie wieder anzunehmen. Versprecht mir, dass ihr ihr direkt ins Auge schaut und sagt: „Ich verleugne dich. Ich werde dich nicht mehr in Anspruch nehmen.“

Ich bitte euch nicht leichtfertig, diese Entscheidung zu treffen. Ich muss mich selber damit abfinden. Ich rede mit mir. Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich völlig berechtigt, die Opferposition noch einmal anzunehmen. Ich sage mir: „Du würdest Recht haben, aber du würdest totsicher Recht haben.“ Die Opferposition ist Tod. Sie ist ein Mörder für euch, für uns – ein Mörder von Liebe, Fürsorge und Verbindung. Du kannst dich immer wieder entscheiden, die Position nicht in Anspruch zu nehmen. Es ist eine wiederholte Entscheidung, keine, die du für immer treffen kannst. Immer wieder die Entscheidung zu treffen, alle Ansprüche auf die Opferposition aufzugeben, erfordert drei Dinge: Entlastung, Entlastung, Entlastung. Unser Anspruch auf die Opferposition hat eine solche Bindung an sie hergestellt, dass wir sie auf Grund des Willens alleine nicht aufgeben können. Die Ausübung des Willens ist wichtig in diesem Prozess, aber sie ist nicht ausreichend. Die Opferposition aufzugeben, erfordert, dass unser Wille von der Heilung durch Entlastung unterstützt wird.

Erinnert euch daran, dass ihr nicht euer Zustand seid. Eure Leute sind nicht ihre Zustände – heute nicht und sie sind es auch nie gewesen. Das ist mein Kernpunkt in Bezug auf Sklaverei. Mein Urgroßvater war kein Sklave. Er war ein schwarzer Mann, ein afrikanischer Mann. Er wurde in einem Zustand von unfreiwilliger Knechtschaft gehalten, aber er war kein Sklave. Ich bitte uns, unser natürliches Wesen wieder in Anspruch zu nehmen und die Sprache abzulehnen, die die Verinnerlichung unserer Unterdrückung vertieft, die die Identität mit Opfersein vertieft – eine Identität, die absichtlich entwickelt und uns auferlegt wurde. Diese Identität als Untergeordnete war Teil eines Systems der Herrschaft und Unterordnung, ob es nun hier in den USA, in der Karibik, in Afrika, in Europa oder anderswo auf der Erde war. Die Opferidentität ist ein historisches Artefakt von Beziehungen der Herrschaft und

Unterordnung, begleitet von Gefühlen, nicht so kraftvoll und klug zu sein, wie die Menschen in der dominanten Rolle.

Der Opferidentität wurde zu verschiedenen Zeiten verschiedene Namen gegeben. In den
USA wurde die Identität des Sklavens den afrikanischen Menschen gegeben. Die Identität des Sklavens ist die Identität eines Opfers. Der Prozess war bewusst. Er hat die Afrikaner in Nord-, Mittel- und Südamerika ihrer afrikanischer Identität beraubt und hat sie gezwungen die Identität des Sklavens anzunehmen sowie die Eigenschaften der Sklaven. Wenn wir von Sklaven abstammen, dann haben wir die selben Eigenschaften wie die Sklaven. Wenn wir von kraftvollen, brillanten, liebevollen, verbundenen Menschen abstammen, die im Zustand von unfreiwilliger Knechtschaft gehalten wurden, dann haben wir die Eigenschaften der Menschen, von denen wir abstammen. Ich möchte, dass jegliche Identitätbeschreibungen aufgebt, die Eigenschaften andeuten oder mit sich tragen, die synonym mit Opfern sind. Wir werden uns nicht mehr mit einer Sprache benennen, die uns zu verstehen gibt, dass wir Opfer sind.

Rational Island Publishers (Hg.): Present Time. Nr. 141, Oktober 2005, S. 69-70, Seattle.

Übersetzt und gekürzt von Uta Allers und Ralf Wagner.


Last modified: 2019-05-02 14:41:35+00